von Hakan Demir, Vorsitzender der AG Migration der SPD Neukölln
Braucht Deutschland ein neues Einwanderungsgesetz? Parteien sind sich uneinig. Doch die SPD scheint sich sich sicher zu sein: Sie will ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Modell. Das Vorhaben wird aber auch unter den eigenen Genoss/innen kritisch gesehen. Zu den Kritikern gehört auch der Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft Migration in Berlin-Neukölln Hakan Demir. Der Neuköllner ist für ein menschenwürdiges Einwanderungsgesetz, das Menschen nicht in zwei Klassen einteilt: nützlich und nicht-nützlich.
Straßen säubern, auf dem Bau arbeiten und am Fließband schuften – das waren nur einige der Aufgaben meines Großvaters, der in den 1960er Jahren von der Türkei nach Westdeutschland – genauer gesagt nach Krefeld-Uerdingen am Rhein – auswanderte. Ein Anwerbeabkommen mit der Türkei hatte den Grundstein dafür gelegt. Deutschland brauchte „Arbeitskräfte“. Doch es kamen, wie die meisten spätestens seit dem Schriftsteller Max Frisch wissen, nicht Gastarbeiter, sondern Menschen – darunter eben auch mein Großvater Ibrahim Demir. Er gehörte zur ersten Generation von Einwanderer/innen, die gemeinsam mit Millionen von Deutschen das deutsche Wirtschaftswunder möglich machte: eine Erfolgsgeschichte!
Deutschland bot und bietet keine Willkommenskultur!
In den 1970er Jahren entschied sich dann die Bundesregierung – gedrängt von der Wirtschaftskrise, einen Anwerbestopp zu verhängen, der faktisch bis heute anhält. Der Anwerbestopp verhinderte jedoch mitnichten den Zuzug von Menschen nach Deutschland. Bis zur deutschen Einheit lebten etwa 4,8 Millionen Ausländer in Deutschland. Heute hat etwa jeder fünfte in Deutschland einen Migrationshintergrund (16,3 Millionen Menschen). Die meisten Einwanderer/innen, die heute kommen, stammen aus dem EU-Raum (im Jahr 2013: 62 Prozent). Viele der neuen Einwanderer/innen bleiben jedoch weniger als ein Jahr. Grund: Deutschland bietet keine Willkommenskultur! Anstatt die Ausländerbehörden umzubauen, die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen zu verbessern, am Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland zu arbeiten, Rassismus und Rechtsextremismus abzubauen, will die deutsche Politik – ganz vorne die SPD – ein neues Einwanderungsgesetz nach kanadischem Modell einführen.
Ein Punktesystem ist der falsche Weg
Doch nicht mal die Kanadier sind mit ihrem Punktesystem zufrieden: Es ist eine offene Baustelle, die Einwanderer/innen in zwei Klassen einteilt: passend und nicht-passend oder nützlich und nicht-nützlich. Dieses Nützlichkeitsdenken ist für Deutschland verheerend und zeigt bereits heute sein grausames Antlitz: So brennen – auch verstärkt durch die Pegida-Bewegung – Flüchtlingsunterkünfte, weil in der Gesellschaft eine Stimmung vorherrscht, die besagt: „Wer nichts bringt, der soll weg“.
Natürlich sind unter den Flüchtlingen auch viele Hochqualifizierte, aber was ist mit denen, die traumatisiert, verletzt und arbeitsunfähig sind – also im Koordinatensystem der Nützlichkeitsdenker „nicht-passend“ sind? Sollen sie wieder weg? Auch wenn ein künftiges Gesetz die Einwanderung von Hochqualifizierten regeln soll und die Asyl- und Flüchtlingspolitik weitestgehend nicht unter das Diktum der Nützlichkeit stellt, wird es dennoch das Verhältnis von der deutschen Bevölkerung zu Einwanderer/innen nachhaltig prägen.
Wir brauchen ein menschenwürdiges Einwanderungsgesetz
Wer nach Deutschland ausschließlich aus wirtschaftlichen Erwägungen kommen durfte, wird, wenn er oder sie nicht mehr wirtschaftlich „nützt“, wieder gehen müssen. Ich bin gegen diese Ökonomisierung von Menschen, denn ein Mensch, der in den Augen eines anderen nicht mehr die Nützlichkeitsanforderungen einer Gesellschaft erfüllt, wird abgehängt und ausgeschlossen – im schlimmsten Fall wird ihm Gewalt angetan.
Unter den jetzigen und geplanten Konditionen zum Einwanderungsgesetz hätte mein Großvater in den 1960ern unmöglich nach Deutschland kommen dürfen. Und obschon er nicht hochqualifiziert und ein einfacher Mann aus einfachen Verhältnissen war, hat er dieses Land mit aufgebaut, eine Heimat für sich und seine Kinder und Enkel geschaffen und das alles ohne ein Punktesystem nach kanadischem Modell. Ermöglicht hat es der Arbeitskräftemangel in den 1950er und 1960er Jahren und eine Bundesregierung, die das Nadelöhr, durch das die Einwanderer/innen durchliefen, nicht zu klein hielt. Doch auch damals war der Nützlichkeitsgedanke Hauptbeweggrund für die Anwerbeabkommen und ein Grund für das Versagen des Staates bei der Integration. Warum etwas für die Integration von Einwanderer/innen tun, wenn sie nur arbeiten sollen, dachten sich sich die Politiker/innen und betrieben bis in die 2000er Jahre keine aktive Integrationspolitik. Kein Wunder also, dass vier Generationen von Einwanderer/innen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens nicht die gleichen Chancen wie Deutsche ohne Migrationshintergrund hatten und haben.
Wir brauchen daher ein menschwürdiges Einwanderungsgesetz, das Einwanderer/innen in Deutschland eine Heimat bietet, nicht nur einen Job; ein Einwanderungsgesetz, das die Familienzusammenführung nicht torpediert; ein Einwanderungsgesetz, das Einwanderung vor allem aus menschenrechtlicher Warte regelt. Deshalb muss das Kosten-Nutzen-Kalkül zurückgedrängt und wenn es doch zur Anwendung kommt, muss es erst durch Prinzipien des Menschenrechts gefiltert werden. Erst wenn wir die Einwanderer/innen als Menschen und nicht nur als Mittel zum Zweck sehen, werden sie auch dauerhaft in Deutschland leben, arbeiten und sich verwirklichen.
Die Ansichten und Argumentationen der Verfasser*innen des Jusos Neukölln-Meinungsblogs sollen die öffentliche Debatte über sämtliche politische Themen voranbringen und sind damit nicht zwingend Meinung der Jusos Neukölln.