Lüge! Lüge! Aufhören!

von Fabian Fischer, Vorsitzender der Jusos Neukölln

Zur Ausübung gelebter Demokratie gehört auch der Dialog zwischen Wähler*innen und Gewählten. Dialog bedeutet dem Wortsinn nach, dass (mind.) zwei Ansichten und Argumente austauschen. Bei der „Bürgerversammlung“ im ehemaligen Flughafen Tempelhof am Donnerstag, 21.01.2016 funktionierte dieser Austausch leider nur bedingt.

Die Ausgangsstatements beider Dialogpartner waren relativ klar. Senat und Bezirkspolitik trafen vom Podium folgende Aussagen:

  • Tempelhof soll max. 7.000 Flüchtlingen Platz bieten, der Senat rechnet eher mit 4.500.
  • Tempelhof soll als Erstaufnahmezentrum fungieren. Die Geflüchteten sollen so schnell wie möglich weiter verteilt werden. Auf keinen Fall sollen sie mehrere Monate oder Jahre dort bleiben.
  • Integration gehört vom ersten Tag durch verschiedene Angebote (auch von Ehrenamtlichen) dazu.
  • Es wird keine Schule nur für Flüchtlinge geben.
  • Das THF-Gesetz muss geändert werden, aber temporäre Bauten sollen zeitlich begrenzt und nur für Flüchtlinge gebaut werden.

Dem gegenüber vermeldete ein Großteil des Publikums (zumindest der hörbare Teil):

  • Keine Änderung am Tempelhof-Gesetz!

Beide Aussagen sind kontrovers und können zurecht kritisiert werden. So weit, so erwartbar.

An dieser Stelle blieb der Dialog leider stehen, denn es mangelte in Folge an zwei entscheidenden Voraussetzungen.

Nr. 1: Aussagen anhören, auch wenn sie einem nicht gefallen. Bei den einleitenden Worten des ersten Senatsvertreters Herrn Gerstle (Staatssekretär für Soziales) rief eine Frau aus Publikum: „Komm zum Thema!“. Die Geduld des Publikums sollte man nicht zu sehr strapazieren, denn 25 Minuten später bei Staatssekretär Gaeblers Aussagen zum THF-Gesetz (zum Thema!) schrie ihm der Saal entgegen: „Lüge! Lüge! Aufhören!“ Wie das geht, Aussagen zu einem Thema zwar nicht hören zu wollen, aber dennoch informiert zu sein, konnte im Laufe des Abends beobachtet werden. Eine rege Fantasie und der Hang zu eigenen Theorien, um die Welt um sich herum zu erklären, sind da sehr hilfreich. Diese Dialektik wurde im Laufe des Abends mehrmals angewandt: Einerseits ärgert sich ein Großteil des Publikums (meiner Meinung nach zurecht), dass die Geflüchteten zusammengedrängt leben müssen, andererseits wird kritisiert, dass der Senat „bei der Fläche aast“, wenn es um die Aufstellung neuer modularer Bauten geht. Einerseits wird die Forderung eines Diskutanten nach einer Obergrenze wild beklatscht. Andererseits stimmt das Publikum Staatssekretär Gaebler zu, dass wir als Stadtgesellschaft die Pflicht haben, Geflüchtete bei uns aufzunehmen.THF

Nr. 2: Argumente verstehen, bewerten, mit dem eigenen Kenntnisstand abgleichen und Thema (neu) bewerten. Diese Grundregel einer erfolgreichen Auseinandersetzung scheint inzwischen für manche Menschen eine völlig inakzeptable Herangehensweise geworden zu sein. Sich immer nur die eigene Weltsicht bestätigen zu lassen und andere Ansichten und Argumente schon von vorneherein auszuschließen, ist anscheinend ein beliebtes Mittel, da das lästige Nachdenken entfällt und man den eigenen Kopf weit weniger in Anspruch nehmen muss als es ratsam wäre.

Drei Aspekte sind mir bei der Veranstaltung am Donnerstag übel aufgestoßen.

Erstens genau dieser Unwille, sich weiter als mit den eigenen vertrauten Beiträgen und Phrasen, die die eigene Meinung bestätigen, auseinanderzusetzen gepaart mit einem tiefen Misstrauen gegenüber jeder Art von Regierung bzw. Autorität. Jede*r Demokrat*in – egal ob Parlamentarier*in, Exekutive, Anhänger von direkter Demokratie o.ä. – muss sich die Frage stellen, wie eigentlich Politik funktionieren soll, wenn auch angesichts von Argumenten und Gegenargumenten nur noch auf das Bauchgefühl oder den eigenen Glauben vertraut wird. Dies manifestiert sich in dem vielfach gerufenen Satz an dem Abend: „Ich glaube euch nicht!“ Wer irgendetwas glaubt oder nicht, sollte die untergeordnete Rolle spielen. Seit der Aufklärung sollte es eigentlich der Verstand und nicht Glaube sein, der bestimmt, wie man über Gesellschaft und Politik denkt.

Zweitens war ich schockiert über den Ausruf eines Publikumsteilnehmers, der dem Podium entgegenschleuderte: „Geben Sie es zu, dass die Flüchtlingsunterkünfte Konzentrationslager sind!“ Das Schockierende ist dabei nicht (nur) der völlig indiskutable Vergleich eines Einzelnen in einer Masse von 1000 Gästen. Niemand kann dafür verantwortlich gemacht werden, dass gerade dieser Mensch zu dieser Veranstaltung geht und Vergleiche bringt, die sich wenige Meter von einem ehemaligen Zwangsarbeiterlager entfernt, verbieten sollten. Schockierend war die Reaktion der 1000 Leute: Wenige, zu wenige empörte Zwischenrufe, Gemurmel und sonst Nichts. Von den gleichen Leuten, die umso lauter schreien konnten, wenn eine Aussage von Seiten des Podiums kam. Ebenso bestürzend war die Null-Reaktion von Podiumsseite, die entweder aus falsch verstandener Toleranz oder Demut hier nicht sofort eingeschritten sind. Dies war zweifelsohne der Tiefpunkt des Abends.

Drittens kommen mir Zweifel am Demokratieverständnis einiger Menschen. Dass der Senat plant, ein erst kürzlich beschlossenes „Volksgesetz“ zu ändern, kann man völlig zurecht sehr kritisch betrachten. Die Pläne des Senats sind allerdings nicht verfassungswidrig, wie ein Gast behauptete. Natürlich kann jedes Gesetz immer durch eine andere gesetzgebende Gewalt geändert werden. Staatssekretär Gaeblers Versuche genau dies zu erklären und darzulegen, dass es dabei einen Unterschied zwischen einer rechtlichen (ohne Bedenken möglich) und einer politischen (politischer Selbstmord) Bewertung gibt, waren zum Scheitern verurteilt. Stattdessen schlug ein Diskutant einen Volksentscheid über Volksentscheide vor. Ihm zufolge sollten Volkentscheide nur noch mit Zwei-Drittel-Mehrheit vom Parlament oder Volksentscheid zu ändern sein. Sprich: Alles, was das Volk direkt beschließt, hat praktisch Verfassungsrang und soll noch nicht mal vom Volk selbst einfach geändert werden können. Diese Forderung hat den eigentlich guten Grundsatz, dass parlamentarische und direkte Demokratie sich ergänzen sollten, aufgegeben. Sie erhöht direkte Demokratie zu quasi sakralem Recht. Sie ignoriert den Fakt, dass z.B. beim Tempelhof-Volksentscheid 1.149.145 Bürger*innen Berlins beteiligt waren. Das ist weniger als die Hälfte der rund 2,49 Millionen Wahlberechtigkeiten. Dies erfüllt zwar eindeutig das Quorum, aber ist eben nicht die Mehrheit der Stadtbevölkerung. Nicht weniger dramatisch ist die geringe Wahlbeteiligung zu den Wahlen für die repräsentative Demokratie, in Berlin lag sie 2011 bei 60,2%. Bei beiden Wahlen weisen soziologische Untersuchungen darauf hin, dass es ganz bestimmte Gruppen – vorrangig sozial benachteiligte – sind, die sich nicht beteiligen. Repräsentative und direkte Demokratie stecken eigentlich in einer Mobilisierungskrise, die sicherlich nicht dadurch gelöst wird, eine Form in den Himmel zu jubeln und ihre Nachteile totzuschweigen.

Wenn wir in den kommenden Monaten und Jahren darüber diskutieren, wie wir Geflüchtete in unser demokratisches System integrieren, müssen wir uns gemeinsam darüber unterhalten, wie wir selbst eigentlich Demokratie gestalten und leben wollen. Mit Täuschung, Wut und der Verweigerung zum Dialog ist unsere demokratische Kultur wahrscheinlich kein leuchtendes Beispiel für die Gestaltung von Politik.

 

 

 

Die Ansichten und Argumentationen der Verfasser*innen des Jusos Neukölln-Meinungsblogs sollen die öffentliche Debatte über sämtliche politische Themen voranbringen und sind damit nicht zwingend Meinung der Jusos Neukölln.

 

 

 

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