von Michelle Starck, stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos Berlin
Ich kann das Augenrollen mancher schon vor mir sehen: Nicht schon wieder ein Artikel über Feminismus. Machen wir uns also nichts vor. Zwei Dinge haben sich seit Beginn der feministischen Bewegung nicht geändert: 1. die vollständige Gleichstellung ist immer noch nicht erreicht, 2. es ist immer noch nicht einfach Feminist*in zu sein. In Diskussionen um geschlechtergerechte Sprache, den gender pay gap und Sexismus in der Werbung, bleibt uns an abstrusen Behauptungen in der Regel nichts erspart, und wenn gar nichts mehr zu helfen scheint, wird seitens der selbsternannten Hüter*innen der „Natürlichkeit“ und des ungestörten Leseflusses mit dem im Grundgesetz festgeschriebenen Art. 3. Abs. 2 „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ geantwortet. Nur leider spiegelt sich darin nicht die Realität wider und verschweigt, dass in vielen gesellschaftlichen Bereichen immer noch keine Gleichstellung der Geschlechter erreicht ist. Fertig ausdiskutiert geglaubte Thesen tauchen immer wieder aus der Versenkung auf. Fünf der beliebtesten heute im Überblick:
1. „Der Lohnunterschied liegt rein an der individuellen Berufswahl“
Wir leben in einer Gesellschaft, die Dinge gerne definiert. Am liebsten definiert sie Frauen* und Männer*; was diese so können, nicht können, wofür sie angeblich gemacht oder eben nicht gemacht sind. Politik und Wirtschaft bleiben so eine Spielwiese für Männer*, während Frauen* aufgrund ihres fürsorglichen Wesens in den sozialen Bereich oder gleich an den Herd geschickt werden. Im Zuge unserer Sozialisation und Erziehung sind wir mit diesen stereotypen Rollenbildern stets konfrontiert. Im Fernsehen, in Schulbüchern, in Berichten von Parteitagen der CDU/ CSU, in der Musik, zu Hause. Und solche Bilder beeinflussen uns. Wer von Anfang an erzählt bekommt, sich aufgrund des Ihm*ihr zuerkannten Geschlechtes gar nicht erst für einen Bereich oder eine Position interessieren zu dürfen, wird dies im schlimmsten Fall auch nicht tun. Und auch in Zeiten eines „girls‘ day“ und von immer mehr Frauen*, die ein Studium in männlich dominierten Fächern beginnen, darf das nicht über momentane Zustände hinwegtäuschen. Einer davon ist, dass Frauen* häufiger in sozialen Berufen angetroffen werden können, die, wie viele andere sog. frauentypische Berufe auch, schlechter bezahlt sind. Die Unterrepräsentierung von Frauen* in Führungspositionen, Brüche in der Erwerbsbiographie aufgrund von Schwangerschaft und dem immer noch mangelhaft vorhandenen Angebot von Kinderbetreuungseinrichtungen, der zusätzlich zur Folge hat, dass Frauen* häufiger in Teilzeit arbeiten, stellen weitere finanzielle Einbußen dar. Und dann ist da auch noch diese unbezahlte Reproduktionsarbeit, welche zumeist von Frauen* geleistet wird. Frauen* verdienen im Schnitt 22% weniger als ihre männlichen Kollegen*, schlicht und ergreifend, weil sie Frauen* sind.
2. „Die Quote benachteiligt Männer.“
Es entspricht einer Tatsache, dass Frauen* in führenden Positionen der Wirtschaft, Wissenschaft und Politik unterrepräsentiert sind. An der viel beschworenen mangelnden Qualifikation oder gar der angebliche Nichtexistenz von Frauen* in bestimmten Bereichen kann es aber nicht liegen, haben Frauen* doch zunehmend die besseren Abschlüsse und erschließen sich immer stärker die sog. männlichen Berufe. Aber eine von Stereotypen geprägte Sozialisation hat auch hier ihre Spuren hinterlassen. Vererbte Denkstrukturen, eingeübte Muster und alte Traditionen sind eben nicht so leicht zu durchbrechen. Zurückhaltung wird immer noch als „weibliche“ und Durchsetzungsfähigkeit als „männliche“ Eigenschaft definiert, Männer* fördern immer noch bevorzugt Männer* und eben diese Netzwerke sind Frauen* einfach nicht zugänglich. Denn was ich nicht kenne, kann ich mir nicht vorstellen, wer weiß, was das am Ende für Konsequenzen hat. Mir könnte ja ein Privileg abhandenkommen. Da kann der Blick schon mal bewusst für qualifizierte und kompetente Frauen* verloren gehen. Ironie aus. Von einer Ungleichbehandlung hervorgerufen durch eine Quote kann definitiv nicht die Rede sein, dafür müsste eine reale Gleichbehandlung logische Voraussetzung sein. Sie stellt vielmehr eine Hilfestellung dar, die eigenen von Stereotypen geprägten Gedankenmuster zu überwinden. Die Quote ist ein Instrument der Sichtbarmachung in doppelter Hinsicht. Sie zeigt uns einerseits, wo wir Menschen entgegen tradierter Rollenvorstellungen für einen gesellschaftlichen Teilbereich ermutigen müssen und andererseits sorgt sie dafür, dass Frauen* sichtbar gemacht werden. Denn es gibt sie*, die qualifizierten Frauen*.
3. „Männer und Frauen sind von Natur aus so“
Frauen* bekommen Kinder, kochen, backen, bleiben zu Hause und die Männer* schaffen das Geld an. Und warum? Ach richtig, weil das schon immer so war. Und weil Menschen in der Steinzeit noch in Höhlen gewohnt haben, das also ganz natürlich sein muss, machen wir das heute bekanntermaßen auch noch so. Diese angeblich natürlichen Eigenschaften sind ebenso natürlich wie der Nationalstaat, nämlich gar nicht. Frauen* wurde über Jahrhunderte hinweg eine gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben versagt und der Zugang zu gewissen Berufen blieb ihnen schlicht und ergreifend mit der Begründung verwehrt, dass sie Frauen* sind. Bis in die 50er Jahre war es ihnen in Deutschland verboten ohne die Erlaubnis ihres Gatten einen Beruf auszuüben, sie durften lange nicht studieren oder sich politisch betätigen, und das schlicht und ergreifend damit begründet, dass sie von Natur aus eben nicht dazu gemacht seien, körperlichen Tätigkeiten nachzugehen oder ihren Kopf zu verwenden. Und dieses sog. Argument endet im Zweifelsfall im Zitieren der Bibel oder in dem Satz, dass das schon immer so gewesen sei. Dabei sehen wir doch, dass Frauen* jede Tätigkeit mindestens genauso gut ausführen können wie ihre Kollegen*. Wo also ist das Argument, dass sich Strukturen nicht ändern können oder dürfen? Und mal am Rande gefragt: wer hat eigentlich bestimmt, dass es nur zwei Geschlechter geben darf?
4. „Nackte Haut in der Werbung hat etwas mit dem Ausdruck von Freiheit zu tun“
Warum muss die Werbung für das neueste Modell einer Kamera mit einer nackten Frau* gespickt sein? Richtig, weil ich mit dem Erwerb der Kamera attraktiver wirke und die Frau* gleich mitgeliefert wird. Ganz große sexistische Kackscheiße. Werbung und die dahinterstehenden Unternehmen wollen verkaufen und das funktioniert am besten, wenn sich eingeübten und anknüpfungsfähigen Rollenbildern bedient wird, welche im gleichen Atemzug selbige reproduzieren. Besonders jungen Menschen wird so das Bild vorgegaukelt, dass sie für ihren eigenen Erfolg diesen konstruierten Bildern entsprechen müssen. Jungs werden irgendwann groß und stark, fliegen Flugzeuge und wenn sie das richtige Deo verwenden, dann liegen ihnen alle Frauen* zu Füßen. Mädchen können später zehn Dinge gleichzeitig machen, sind immer perfekt geschminkt und brauchen für diesen Energieverbrauch noch nicht mal Nahrung zu sich nehmen. Die Tatsache, dass Menschen auf ihr äußeres Erscheinungsbild reduziert und zu sexuell stets verfügbaren Objekten reduziert werden, hat nichts mit der Realität und schon gar nichts mit dem Ausdruck von Freiheit zu tun. Ganz im Gegenteil: Menschen wird gesagt, was sie zu tun und wie sie zu sein haben, und noch schlimmer, wofür sie angeblich gemacht sind.
5. „Gendern behindert den Lesefluss“
Genossen, Genossinnen und Genossen, GenossInnen, Genoss_innen, Genoss*innen. Sprache ist allgegenwärtig, beeinflusst unser alltägliches Denken und Handeln und ist nicht zu guter Letzt ein politisches Instrument. Wer in der Sprache nicht sichtbar ist und sich nicht angesprochen fühlt, ist auch nicht mitgemeint und wird ausgegrenzt. Eine geschlechtergerechte Sprache macht Menschen sichtbar und stellt außerdem eine grundlegende Möglichkeit dazu bereit, über die binäre Einteilung der Gesellschaft in „männlich“ und „weiblich“ hinauszudenken. Denn es gibt mehr als zwei Gender und es geht bei geschlechtergerechten Sprache mehr als um einen sog. ungehinderten Lesefluss. Sprache verändert sich und passt sich Realitäten an. Und auch für die größten Gegner*innen besteht noch Hoffnung: Die Geschichte zeigt, dass sich die meisten Menschen auch irgendwann an die neue Rechtschreibung und die Abkehr von der Sütterlinschrift gewöhnt haben.
Punkt 2 der Einleitung muss ich wohl revidieren, denn bei diesen Verhältnissen ist es einfach Feminist*in zu sein. Schließlich verbirgt sich hinter unserer Idee des Feminismus nichts weiter als das Ziel eben diese Verhältnisse zu verändern und eine Gesellschaft zu schaffen, die frei von Diskriminierung und Ausgrenzung ist. Das mag bei einer Quote beginnen, geht jedoch noch viel weiter darüber hinaus. Feminismus beinhaltet den Kampf gegen Homo-/ Bi- und Trans*phobie sowie gegen Strukturen, die Menschen nicht nur aufgrund des ihnen zugewiesenen Geschlechts sondern gleichzeitig auch aufgrund ihrer Klasse, ihrer Hautfarbe und/ oder einer Behinderung systematisch diskriminieren. Und die strukturelle Gewalt ist dabei nur die eine Seite Medaille. Was ist mit all der physischen Gewalt, die aus reiner gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit immer noch gegen Frauen* verübt wird? Was ist mit all den Hasstiraden von Antifeminist*innen, die sich besonders im Internet gegen aktive Feminist*innen richten? Was ist das für eine Gesellschaft, wenn in der Öffentlichkeit stehende Personen den Kampf gegen Sexismus als „Tugendfuror“ diffamieren? Es ist auf jeden Fall keine, die unverändert bleiben sollte.
Die Ansichten und Argumentationen der Verfasser*innen des Jusos Neukölln-Meinungsblogs sollen die öffentliche Debatte über sämtliche politische Themen voranbringen und sind damit nicht zwingend Meinung der Jusos Neukölln.
Zwei Menschen bewerben sich um einen Job. Sie sind gleich qualifiziert. Nun bekommt der weibliche Mensch die Stelle. Das Geschlecht ist das ausschlaggebende Kriterium. Der Mensch mit dem falschen Geschlecht – hier männlich – erhält eine Absage. Stellenvergabe aufgrund des Geschlechts ist Diskriminierung.
Richtig. Die Jobvergabe aufgrund des Geschlechtes ist Diskriminierung und trifft in den meisten Fällen Frauen*. Bei der von dir näher ausgeführten Praxis handelt es sich um ein Instrument, welches der Unterrepräsentation von Frauen* in vielen gesellschaftlichen Bereichen entgegenwirken möchte. Dabei steht das Ziel einer gleichberechtigten Teilhabe aller an der Gesellschaft im Mittelpunkt. Wie im Artikel selbst ausgeführt, existieren jedoch Strukturen und Netzwerke, welche Frauen* konsequent benachteiligen, also aufgrund ihres Geschlechtes diskriminieren. Das angesprochene Mittel dient dazu eben diese zu durchbrechen und ihnen gesetzlich verankert etwas entgegenzustellen. Zudem dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass die Defintion von “gleicher Qualifikation” oft willkürlich gehandhabt bzw. ohnehin ausdifferenziert wird. Häufig tritt der Fall ein, dass sog. Kriterien derartig “angepasst” werden, dass es innerhalb des Bewerbungsverfahrens trotz allem zu einer Reihung der Bewerber*innen kommt. An oberster Stelle steht eher selten eine Frau*. Der von dir beschriebene Fall tritt somit selten bis gar nicht ein. Und wenn doch, ist noch einmal zu untersuchen, ob es sich nicht ohnehin um eine Branche handelt, welche von einer männlichen Überrepräsentierung geprägt ist.