von Fabian Fischer, Vorsitzender des Fachausschusses Europa der SPD Berlin
Nun ist es also passiert. Großbritannien will raus: Ein Ausstieg mit Ankündigungen. Auch wenn diese Entscheidung natürlich ganz bestimmte landespezifische Details hat, auf die ich noch eingehen werde, bettet sie sich doch trotzdem ein in einen europaweiten Prozess der Renationalisierung und des Aufstiegs rechter und rechtspopulistischer bzw. völkisch-nationalistischer Kräfte. Die Wahlerfolge aller möglichen nationalistischen Parteien, die sich mit ihrer hasserfüllten Propaganda gegen Flüchtlinge, gegen MigrantInnen, Frauen, LGBTIQ* und die EU überall in Europa ausbreiten, sind Zeugen dieses Prozesses. Nachdem wir in Österreich mit einem blauen Auge davon gekommen sind, ist dies in Großbritannien nun leider nicht mehr der Fall. Dass dieser Prozess zudem der Labour-Abgeordneten Jo Cox das Leben gekostet hat, macht diese Entwicklung umso besorgniserregender und abstoßender.
Zwei Fragen: Wie konnte es dazu kommen? Und wie geht es jetzt weiter? Beide Fragen sind nicht ad hoc zu beantworten und bedürfen einer intensiven und gründlichen politischen Analyse. Daher sind die nachfolgenden Ausführungen nur als Schlaglichter zu betrachten. Die Details überlassen wir klugen PolitogInnen, die sich nun ob dieser neuen Forschung die Hände reiben.
Wie uns die Wahlanalysen zeigen und schon bisher in Umfragen zuvor veröffentlicht wurde, gibt es sehr deutliche Unterschiede im Wahlverhalten innerhalb der britischen Bevölkerung und zwar nach regionalen (Schottland und Nordirland sind eher proeuropäisch), demografischen (Jüngere sind proeuropäischer als Ältere) und sozialen Faktoren (Ärmere Schichten waren mehrheitlich für den Brexit).
Jung dafür – Alt dagegen:
Aus jungsozialistischer Sicht ist es erfreulich, dass viele Menschen unserer Generation „JA“ zu einem vereinten Europa gesagt haben. Das zeigt auch, dass Errungenschaften der Union für viele Jüngere zur Normalität geworden sind und eine Denken in striktem nationalen Mustern der Vergangenheit angehört. Leider konnte sich die jüngere Generation nicht durchsetzen, wird aber mit den Folgen leben müssen. Das ist ärgerlich, aber Demokratie funktioniert nun einmal immer so, dass auch jene abstimmen, die von Regelungen vielleicht gar nicht mehr (oder nur noch vergleichsweise kurz) betroffen sind. Dies ernsthaft in Frage zu stellen, würde bedeuten, dass wir 80-jährigen das Wahlrecht absprechen und das kann nicht wirklich das Ziel sein. Wohl aber muss wieder nachgefragt werden, warum die Generation U18 eigentlich nichts zu sagen hatte in diesem Referendum?
Schottland + Nordirland dafür – England + Wales dagegen
Allenthalben wird nun eine mögliche Desintegration des Vereinten Königreiches ins Spiel gebracht. Die schottische Erste Ministerin Nicola Sturgeon von der SNP (Scottish National Party) hat bereits verkündet, dass ein erneutes Referendum in Schottland wieder auf der Tagesordnung stehen könnte. Wir sehen damit den nächsten Schritt zum „Neverendum“, also einem Prozess, in dem es immer neue Abstimmungen braucht, da ein klarer politischer Kurs nicht mehr möglich ist. Allerdings halte ich es für unwahrscheinlich, dass es sehr schnell zu einem Unabhängigkeitsreferendum kommt. Die schottische Regierung wird diesen Schritt nur wagen, wenn sie sich ihres Sieges absolut sicher ist. Gleichzeitig war das letzte Referendum mit Rückendeckung der britischen Zentralregierung (dem Abkommen von Edinburgh) abgehalten worden, was dessen Rechtmäßigkeit überhaupt erst begründete. Es ist in der jetzigen Situation äußerst fraglich, ob die Regierung in London nun erneut einem solchen rechtlichen Schritt zustimmen und das Ergebnis anerkennen würde. Geschieht dies nicht, brächte das die Region in eine ähnliche Konfliktstellung wie Katalonien und die spanische Zentralregierung, die eine Abspaltung getreu der Verfassung verbietet. Außerdem würde eine Abspaltung Schottlands natürlich nicht automatisch einen Beitritt zur EU bedeuten. Dazu müssten Beitrittsverhandlungen geführt werden, die in der Regel mindestens zwei Jahre dauern. Noch krasser ist der Fall Nordirland. Die EU hatte hier einen großen Anteil daran, dass die gewalttätigen Konflikte in dem Landesteil eingedämmt werden konnten. Da die Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland nun EU-Außengrenzen werden könnte, ist es völlig offen, wie sich die Region entwickeln wird und ob tot geglaubte Geister der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen KatholikInnen und ProtestantInnen wieder auferstehen. Das muss unbedingt verhindert werden!
Reich dafür – Arm dagegen
Für uns als SozialdemokratInnen ist der Befund erschreckend, aber nicht überraschend. Sozial Benachteiligte – und damit genau jene Wählergruppen, die wir eigentlich erreichen wollen – hatten in Umfragen angegeben, zum großen Teil für den Brexit zu stimmen. Die Gründe hierfür sind sicher mannigfaltig. Viele Menschen haben aber offensichtlich das Gefühl, dass ihnen entweder die EU, oder ihre eigene Regierung oder beide nichts für ihr eigenes Leben bringen. Der Satz von Jacques Delors „In einen Binnenmarkt kann man sich nicht verlieben.“ Ist sicherlich richtig. Die EU ist für zu viele Menschen ein seelenloses, technokratisches Ungetüm, das ihnen Regelungen aufdrückt, aber kaum Vorteile bringt. Für diese Menschen sind die Versprechen für Frieden in Europa zu vage, zumal es Frieden auch ohne EU-Mitgliedschaft gibt (siehe Schweiz und Norwegen). Natürlich ist dieses Bild von der EU überzeichnet. Es ist Folge jahrelanger Politik, die Brüssel als Sündenbock für alles Schlechte in der Welt darstellte. Aber die EU ist nicht unschuldig. Ihre VertreterInnen – ob Kommission, Parlament und v.a. Rat – haben zu wenig für ein soziales Europa getan, ein Europa, dass für Wirtschaft, Wohlstand und soziale Absicherung steht. Die Schlagworte der letzten Jahre waren dagegen Austerität und Abschottung vor Flüchtlingen. In ihrer Perspektivlosigkeit haben Menschen das Referendum auch genutzt, um ihrer eigenen Regierung „eins auszuwischen“. Dass sie selbst wahrscheinlich die Leidtragenden sein werden, spielte da keine Rolle und hat in Deutschland auch noch niemanden davon abgehalten, AfD zu wählen. Die traurige Erkenntnis ist, dass wir als politische Linke nicht mehr die Herzen der Menschen erreichen und keine Perspektiven mehr jenen geben können, die sich als völlig abgehängt betrachten. Diese Menschen haben sich anscheinend den rationalen Argumenten der Pro-EU-Kampagne verschlossen und sich stattdessen den wirren Heilsversprechen nationalistischer Rattenfänger zugewandt. Die möglicherweise dramatischen sozialen Folgen des Brexit müssen die nicht lösen.
Wie geht’s nun weiter?
Die rechtlichen und politischen Konsequenzen sind angesichts dieses einmaligen Vorgangs unklar. Es gibt nur sehr wenige Gewissheiten, an die wir uns halten können. Zunächst einmal ist das Referendum kein bindender Beschluss für das britische Parlament. Dieses muss nun wahrscheinlich formal die britische Regierung beauftragen, bei der EU einen Austritt nach Artikel 50 EU-Vertrag zu beantragen. Tut sie das nicht, passiert auch nichts. Etwaige Überlegungen zu einem Austritt auf Raten und Verhandlungen mit einzelnen Mitgliedstaaten könnten zwar erfolgen, wäre aber nicht das, was die EU-Verträge vorgeben. Allerdings sollten diese auch nicht überbewertet werden, da wir in der Vergangenheit mehrmals erlebt haben, dass die Staats- und Regierungschefs sehr kreativ sein können, wenn es darum geht, ein bestimmtes politisches Ergebnis zu forcieren, Rechtslage hin oder her. Wenn (!!) die britische Regierung dem Rat ihr Austrittsgesuch offiziell mitgeteilt hat, haben die EU (d.h. konkret die Kommission) und die britische Regierung zwei Jahre Zeit, die Austrittsmodalitäten vertraglich zu regeln. Gelingt ihnen das nicht, kann der Rat einstimmig beschließen, die Frist zu verlängern. Sollte sich nur ein Mitgliedsstaat dieser Verlängerung verweigern, sind alle bis dato bestehenden Verträge nach dieser Zwei-Jahres-Frist automatisch hinfällig. Das heißt ganz konkret: Schaffen es EU und Großbritannien nicht in zwei Jahren einen geordneten Austritt zu verhandeln und verlängert die EU diese Frist nicht, dann werden von einem Tag auf den anderen die Zollschranken wiedererrichtet, alle Handelsverträge brechen für Großbritannien weg, die Dienstleistungs- und Anerkennungsbestimmungen sind weg und die finanzielle Unterstützung der EU auch. Kein sehr rosiges Szenario. Das zeigt aber auch: Die EU sitzt wahrscheinlich am längeren Hebel.
Da nun Brexit-Befürworter und David Cameron nach ersten Äußerungen nicht gerade eine besondere Eile an den Tag legen, die EU-Spitzen wie Martin Schulz und Jean-Claude Juncker aber genau dies fordern, könnte uns ein langwieriger Diskussionsprozess zum Austritt bevorstehen. Diese Unsicherheit hat wahrscheinlich Auswirkungen auf die europäischen Finanzmärkte, die in der Vergangenheit nichts so sehr gefürchtet haben wie Unsicherheiten. Wahrscheinlich wird aber noch sehr viel Wasser die Themse hinabfließen, bevor Großbritannien tatsächlich draußen ist.
Daher ist fraglich, wer nun eigentlich tatsächlich den wahrscheinlich derzeit undankbarsten Job der Welt als Premierminister Großbritanniens übernehmen will. Ich würde kein Land regieren wollen, das ggf. in eine Wirtschaftskrise schlittert, dessen Landesteile offen mit Abspaltung kokettieren, das Austrittsverhandlungen mit einer resoluten EU führen muss und das zudem noch von feiernden Nationalisten heimgesucht wird.
In diesem Sinne: Keep calm and make Revolution!
Die Ansichten und Argumentationen der Verfasser*innen des Jusos Neukölln-Meinungsblogs sollen die öffentliche Debatte über sämtliche politische Themen voranbringen und sind damit nicht zwingend Meinung der Jusos Neukölln.